Individuelle Anmerkungen eines Anarchisten zur EU-"Verfassung" - Gesetzentwurf von 2004 -

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Nachdem ich mit viel Kaffee etwa 600 der 1200 Seiten (einschließlich Anhänge) des Gesetzestextes gelesen habe, hier einige Eindrücke nach Lektüre der "Verfassung".

Ausgelassen habe ich beim Lesen im wesentlichen die Protokolle in den Anhängen, die Sonderregelungen für einzelne Länder oder bestimmte Ländergruppen vorsehen. Außerdem habe ich die Texte zu den Entscheidungsabläufen in den Gremien und Institutionen der EU überblättert. Dies war eine rein spontane Auswahl und ich kann nicht beurteilen, ob in den von mir nicht gelesenen Teilen nicht auch wichtiges drinsteht. Vernachlässigt habe ich dabei die sicher auch wichtige Nichtbeachtung der Gewaltenteilung (Exekutive / Legislative / Juridikative). Außerdem bin ich kein Jurist. Ergänzt habe ich die Lektüre um den Vertrag der Europäischen-Atom-Gemeinschaft (EAG-Vetrag), der im Protokoll 36 der Anhänge zur Verfassung aktualisiert wird.
Dies sind kurze Eindrücke, keine detaillierten Analysen. Ich habe mir als Anarchist einfach ein Urteil angemaßt.
Ich glaube, daß dies auch wichtig ist, daß Menschen sich einfach ein Urteil machen und sich nicht durch "Fachleute" entmündigen lassen.

Allgemein gilt, daß viele Paragraphen viel Auslegungsspielraum lassen. Dies gilt insbesondere für die Paragraphen die fortschrittliche Menschenrechte betreffen. Letztendlich hängt die Wirkung dieser "Verfassung" nur sehr bedingt am Text sondern an ihrer Auslegungspraxis.

So heißt es z.B. in der Charta der Grundrechte "Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden." (Artikel II 62 Abs. 2). Dort stehen keine Einschränkungen. Im Kommentar (siehe Schlußakte) heißt es dann dazu, daß dies wie bisher zu lesen sei, und daß selbstverständlich im Kriegsfall die Todesstrafe verhängt werden könnte und im Fall von Aufständen auch Erschießungen möglich sind, außerdem könnten natürlich auch Gefangene, die fliehen, erschossen werden. Da der Kriegsfall leider inzwischen wieder die Normalität europäischer Staaten darstellt läßt dies beliebig Auslegungsspielraum.

Ein anderer Paragraph in dieser Charta sagt "Niemand darf gezwungen werden Zwangs- oder Pflichtarbeiten zu verrichten" (Artikel II 65 Abs. 2). Auch hier stehen wieder keine Einschränkungen. Im Kommentar (siehe Schlußakte) steht dann, daß dies selbstverständlich nicht den Zivil- oder Ersatzdienst betrifft, und nicht die Zwangsarbeit von gerichtlich Verurteilten und auch nicht auf übliche Bürgerpflichten zu beziehen sei. Fragt sich, was da überhaupt noch bleibt, was nicht erlaubt ist.

Der Text dieser Grundrechte ist also offensichtlich für ihre Auslegung weitestgehend irrelevant. Die Rechtsprechung hat keinerlei Probleme eine Aussage in ihr Gegenteil zu verkehren. Diese Praxen sind gerade vom EU-Gerichtshof auch bekannt.
So wurde die Quote für die Beschäftigung von Frauen in Bremen vom EU-Gerichtshof aufgehoben mit der Begründung dies würde dem Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen, und dies obwohl auch damals schon im Gleichbehandlungsgesetz ausdrücklich vermerkt war, daß dieses Gesetz nicht zu Ungunsten der diskriminierten Gruppe und zur Verhinderung von Fördermaßnahmen ausgelegt werden dürfe. Die sexistische Altmännerseilschaft, die sich EU-Gerichtshof nennt, interessierte dies nicht. Argumentiert wurde von den Richtern, daß die Einschränkung, daß der Paragraph nicht zu Ungunsten diskriminierter Gruppen ausgelegt werden dürfe, nur im Anhang stand und damit nicht relevant sei.
Im Kommentar zu vielen Artikeln aber auch im Text selber wird auch immer wieder die Einschränkung gemacht, daß diese Artikel nur im Rahmen der Moral (Was ja wohl DoppelMoral der Herrschenden bedeutet) zu interpretieren seien.

Das heißt, es ist zu begreifen, daß Gerichte wie der EU-Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht längst Organe der Legislative, also gesetzgebende Instanzen (eben durch Änderung der Interpretation nach neoliberal sexistischem Belieben), sind.

Entsprechend reicht es nicht hin, z.B. ein Antidiskriminierungsparagraphen in der EU-"Verfassung" stehen zu haben. Notwendig ist der Aufbau politischer Gegenmacht und direkter politischer Aktionen gegen den EU-Gerichtshof ebenso wie gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (Mensch denke nur an die willkürliche Auslegung der Paragraphen die Auslandseinsätze ansich verbieten - zumindest war dies in den 70ern auch noch der Konsens der VerfassungsrichterInnen -).

Die Analyse der EU-"Verfassung" ist entsprechend unter zwei Vorbehalte zu stellen.

Die Analyse und politische Auseinandersetzung mit dieser EU-"Verfassung" hat unter diesen Gesichtspunkten für mich einmal den Zweck ihrer Delegitimierung, also die Unterschiede zwischen "Verfassungs"text und Verfassungsrealität herauszuarbeiten und gleichzeitig den Text selbst zu kritisieren, und zweitens, über die Auseinandersetzung um den Text, selbst Einfluß zu nehmen auf die zukünftige Auslegungspraxis. Zentral ist aber für mich der erste Punkt, die Delegitimierung der Instanz EU-Gerichtshof und mit ihr zusammen die Delegitimierung des Bundesverfassungsgerichtes.

Außerdem läßt sich an Hand dieses "Verfassungs"textes die gesellschaftspolitische Zielvorstellung eines nicht unerheblichen Teils der herrschenden neoliberalen Interessengruppen analysieren.



Nun zum Gesetzestext

Erstmal dies ist keine Verfassung sondern eine sehr viel umfassendere Rechtsordnung für die EU mit Schwerpunkt auf wirtschaftlichen Fragen. Der Begriff Verfassung ist bewußt irreführend.

Im direkten Gesetzestext sind mir vor allem vier Dinge massiv aufgestoßen:

Außerdem werden Schengen und der EAG-Vertrag (Europäische-Atom-Gemeinschaft) weitergeführt.

Das heißt sowohl die rassistischen und polizeistaatlichen Vereinbarungen von Schengen wie die Förderung der Atomenergie bleiben Teil der EU-Politik (Und das heißt auch die BRD fördert die Atomenergie laut ihrer Verpflichtung im EAG-Vertrag).



Alltag & Verfassung

Darüber hinaus gilt auch für diese Verfassung, daß viele Alltagselbstverständlichkeiten, in denen Herrschaft vielfach eingeschrieben ist, ohne das dies noch bewußt bemerkt wird, weiter festgeschrieben werden.
Zumindest in einem Punkt gibt es hier aber auch realen Fortschritt.




Perspektiven

Da für die Rechtsrealität die Gesetzestexte nur von nachgeordneter Bedeutung sind und die Auslegungspraxis das Entscheidende ist, ist es wichtiger an der Basis das politische Bewußtsein zu ändern und ein entsprechendes Druckpotential für anarchistische Ideen aufzubauen, statt sich in brüsseler Bürotürmen an Formulierungen abzuarbeiten.

Eine Verfassung für Europa könnte auch aus anarchistischer Sicht Sinn machen, falls sie als Mittel genutzt werden könnte eine breite grenzüberschreitende Diskussion über politische Ziele und die Frage des, wie wollen wir leben, von der Basis aus zu führen. Eine solche von den Menschen ausgehende Verfassungsdiskussion würde unabhängig vom konkreten Ergebnis ein Moment der Politisierung und Selbstbestimmung darstellen. Sie würde dazu führen, daß Menschen sich unter- und miteinander auseinandersetzen müßten und Erfahrungen sammeln würden, wie Ziele politisch formulierbar sind. Falls es gelingen würde in einen solchen Diskussionsprozeß Elemente anarchistischen Denkens und Handelns einzubringen dann wäre dies, im Gegensatz zu rein juristisch formalen Auseinandersetzungen, ein wirklicher Erfolg.
Dies würde sich dann vermutlich auch im Gesetzestext niederschlagen, wichtiger ist aber die Bewußtseinsänderung.

Die Auseinandersetzung über diesen Entwurf einer Verfassung von 2004 macht insofern auch nur Sinn um die neoliberalen Intentionen aufzuzeigen und politische Alternativen zu stärken.

Das als erster Eindruck.


Jörg Djuren





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Zuletzt aktualisiert 30.04.2016






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EU-Verfassung - anarchistische Kritik des Entwurfs von 2004

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