- Pazifismus im 21. Jahrhundert -
Textaufruf als PDF
Als unabhängige Initiative haben wir 2016 / 2017 AutorInnen und interessierte Mitdiskutierende gesucht, die zu aktuellen Fragen der pazifistischen Theorie und Praxis interessante Ideen und Texte beitragen. Wir wollten diese sowohl als Buch als auch über das Internet publizieren. Auf Grund des geringen Rücklaufs und auf Grund veränderter politischer Schwerpunkte hat sich die Gruppe aufgelöst. Grundsätzlich stehen wir für Nachfragen aber noch zur Verfügung und sind auch bereit mitzuwirken, falls andere ähnliche Projekte durchführen und diese Fragen aufgreifen wollen. Deshalb findet Ihr unseren Aufruf, Materialien und Texthinweise hier auch weiter auf dieser Internetseite. Die E-Mailadresse ist weiter aktiv.
Wir suchen Texte, Analysen, Zeichnungen, ...
Die bisherigen pazifistischen Theorien sind angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr in der Lage, mit ihren Argumenten gegen Militarismus zu überzeugen, insbesondere deshalb, weil es ihnen nicht gelingt, alternative gewaltfreie Lösungen aufzuzeigen. Der Militarismus erscheint zwar als Übel, das zu keiner Lösung führt, er erscheint im 21ten Jahrhundert aber gleichzeitig als alternativlos. Dabei sind viele Entwicklungen nicht neu, aber sie haben inzwischen ein qualitatives Niveau erreicht, das in ihrem Zusammenwirken zu einer neuen Situation führt.
Wir wollen hier Ansätze für Antworten und Lösungen aus pazifistischer Sicht unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen diskutieren, um so Ausgangspunkte für eine pazifistische Theorie und Praxis für das 21. Jahrhundert zu finden.
Die Welt ist praktisch durchgehend im Krieg. Dies gilt für die gesamte zweite Hälfte des 20ten Jahrhunderts bis heute. Der große Krieg, der Weltkrieg wurde abgelöst durch eine Vielzahl regionaler Konflikte von Korea über Algerien, Vietnam, Sri Lanka, Indien, China, Indonesien, Westsahara, den Nahen Osten u.v.a.. Die bekanntesten aktuellen Konflikte sind der Krieg in Afghanistan, gekämpft wird dort seit 1980, die Kriege in Syrien, im Irak und in Lybien, der immer noch aktuelle Konflikt im Kongo wird, wie eine ganze Reihe anderer Konflikte, zur Zeit weitgehend ausgeblendet. Viele Kriege werden seit Jahren geführt ohne Aussicht auf Frieden. Die Herausbildung von Kriegsökonomien führt dazu, dass zunehmend Gruppen innerhalb der Gesellschaften an Macht gewinnen, die an einer Aufrechterhaltung des Kriegszustandes ein Eigeninteresse haben. In Libyen kämpfen so inzwischen verschiedene bewaffnete Gruppen um die Vorherrschaft, die sich auf lokale Milizen, Strukturen der organisierten Kriminalität und Teilregionen stützen. Zugespitzt wird die Lage durch militärische Interventionen, die Neoethnisierung von Konflikten und die Spaltung der Bevölkerung entlang neoreligiöser Ideologien immer unter der Realität globalisierter Gesellschaften auch und gerade in den Kriegsgebieten. Viele Konflikte sind 'eingefroren', was bedeutet, dass sie auch wieder zu 'heißen' Kriegen werden wenn entsprechende Interessenlagen dies nahelegen. Konflikte drohen auch angesichts ökonomischer Krisen und Konflikte um die Kontrolle knapper werdender Ressourcen zwischen den Großmächten und zwischen regionalen Mächten, die um Zugänge zu sauberem Wasser oder Bodenschätze konkurrieren. Verschärft werden alle diese hier nur skizzierten Probleme durch Weiterentwicklung und Weiterverbreitung von ABC-Waffen, durch Rüstungshandel vor allem mit Kleinwaffen, Waffenexporte und viele Konzeptionen, die Konflikte und gesellschaftliche Krisen militarisieren (etwa als 'Krieg gegen Drogen', Krieg gegen aufständische oder widerspenstige Bevölkerungen, Krieg gegen Separatisten, Krieg gegen den Terror, Identitätspolitiken entlang neoreligiöser oder neoethnischer Linien, Rassismus, ...). Es wird an vielen Stellen Krieg geführt oder vorbereitet.
Dabei hat der Krieg gleichzeitig ein neues Gesicht bekommen. Es gibt nicht mehr DEN Krieg, sondern viele, oft unübersichtliche Konfliktlagen, Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen und dementsprechend auch eine Notwendigkeit, genau zu untersuchen, wo pazifistische Aktionen und Strategien jeweils ansetzen können, welche Mittel eingesetzt werden müssen.
Wir suchen positive Antworten, utopische und konkrete pazifistische gewaltfreie Handlungsalternativen für die globalisierte Welt heute und für eine pazifistische Zukunft.
Einige der aktuellen Entwicklungen wollen wir hier noch etwas ausführlicher benennen.
1) Technologische Aufrüstung
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die technologische Aufrüstung in Zukunft dazu führen würde, dass eine relativ kleine Gruppe hoch ausgebildeten militärischen Personals mit der in den Waffensystemen materialisierten Arbeit und Intelligenz von Millionen Krieg auch ohne die Bevölkerung führen könnte (jedenfalls solange, wie kein Rüstungsgüternachschub notwendig wird). Ein Weltkrieg würde dann in Zukunft von einigen 10.000 hochgerüsteten SoldatInnen/Fachkräften auf beiden Seiten geführt werden können, die Bevölkerung wäre dazu dann nicht mehr notwendig. Übersehen wird dabei aber, dass dieser relativ kleinen Zahl an SoldatInnen/Fachkräften, die vor Ort im Kriegsgeschehen involviert sind, eine vielfache Zahl an InfrastrukturdientsleistungserbringerInnen und Fachkräften des Massenmordes in der 'Heimat' zur Seite steht. Und all diese Beteiligten am Morden leben mit Ihren Familien in dieser Welt, nutzen die Schulen und Universitäten, die gesellschaftlichen und die kulturellen Strukturen der Gesamtgesellschaft und die Infrastruktur.
Der hoch technologisierte Krieg wird nicht mehr primär mit SoldatInnen vor Ort geführt, sondern vor allem durch eine viel höhere Zahl von Fachkräften in der Heimat. Die Drohnenpilotin, die am Vormittag auf Grund eines Datenfehlers eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan massakriert hat, sitzt vielleicht gerade neben Ihnen im Kino.
Die Schwierigkeit diese hochqualifizierten Fachkräfte des Massenmords zu aquirieren und zu ersetzen, führt nicht nur dazu, dass das militärische Personal immer besser geschützt wird, das Militär ist auch gezwungen vergleichbare Arbeitsbedingungen, wie die private Wirtschaft, zu schaffen. Dazu gehört, dass ein Großteil der MitarbeiterInnen nicht mehr unter direkter Kontrolle des Militärs kaserniert arbeiten, sondern in vergleichbaren Arbeits- und Lebensverhältnissen leben wie die Zivilgesellschaft, als Teil dieser.
Die Grenzen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen verwischen, dies beinhaltet nicht nur Risiken für das Zivile, sondern liefert auch neue Ansatzpunkte für Widerstand.
- Was bedeutet dies für die Analyse, die Ausarbeitung von Alternativen und für Widerstandsformen, der Massenstreik z.B. scheint in dieser Situation nur noch begrenzt wirksam bzw. ganz unwirksam zu sein?
Auf der anderen Seite weisen Handlungen wie die von Edward Snowden und Chelsea Manning auf neuartige Ansätze subversiven Widerstandes hin.
2) Multiple Kriegsführung
Im Zeitalter der Globalisierung mit ihren internationalisierten Finanzmärkten, Produktionsketten und Kommunikationsplattformen, wird die Nutzung der Kontrolle dieser Institutionen und Strukturen der globalisierten Welt zum Mittel der Kriegsführung mit nicht militärischen Mitteln. Die Grenzen zwischen Zivil und Militär verwischen auch hier.
Die zivilen Institutionen werden zum/sind bereits Mittel der Kriegsführung. Dies hängt damit zusammen, dass der klassische Nationalstaat zwar weiter existiert aber nicht mehr über eine Nationalökonomie verfügt. Die Staaten bewegen sich in einem Geflecht internationaler Abhängigkeit und Konkurrenz. Sie werden dabei zu nachrangigen Akteuren gegenüber zunehmend international agierenden kapitalistischen Strukturen. Die Staaten werden vergleichbar den Subjekten zu KonkurrentInnen um die Gunst des Kapitals.
Durch die um sich greifende alles dominierende Logik des Homo Ökonomicus wird eine reduzierte Rationalität als verallgemeinerte einzig gültige Ordnung der Dinge nahegelegt. Eine Polarisierung in soziale Bewegungen mit emanzipatorischen solidarischen und egalitären Motiven einerseits und solchen, die durch ihre bornierte Interessenlogik Ausgrenzung, Rassismus, Selbstbereicherung verteidigen oder ausweiten wollen, zeigt sich in den Metropolen deutlich etwa in der Haltung gegenüber Flüchtlingen und Migranten. Wo es nicht gelingt, Empathie zu organisieren, militarisieren sich diejenigen, die Grenzen schließen und nicht teilen wollen. Die ausgeblendeten Teile der Realität und die in diesen sich anstauenden Frustrationen bahnen sich dabei in Form reaktionärer Ausbrüche (Z.B. Fußball-Hooligans, Haß-Reden auf Abweichler, Fremde) ihren Weg zurück ans Tageslicht und werden mit der Ausweitung des repressiven Staates beantwortet, der hierdurch in der Postmoderne seine Existenz legitimiert.
Die Vermischung des Zivilen und Militärischen schafft vielleicht auch hier neue Ansatzpunkte für pazifistische AkteurInnen. Es ginge darum, pazifistische zivile Macht als eigenständiges Mittel ernst zu nehmen, als Mittel zur Durchsetzung gegen jede Form von Militarismus, auch gegen den der 'eigenen' Nation/Gruppe.
- Welche Handlungsalternativen als Gegenmachtstrategien existieren und wie ist es möglich, sie in klarer Abgrenzung von und als widerständig zu den Machtstrategien der Herrschenden auszuführen?
Denn wir müssen uns dem Problem stellen, daß pazifistische Strategien, besonders Boykott, Embargo heute zum selbstverständlichen Bestandteil nicht-militärischer und militärischer Machtpolitik zwischen Staaten geworden sind. Selbst Boykott, von gewaltfreien Massenbewegungen getragen, kann in bestimmten Situationen ZivilistInnen mehr schädigen als die eigentlich bekämpften Strukturen und u.U. Strategien der Herrschenden zuarbeiten.
3) - Radikalisierte Entfremdung / Der Wahnsinn der Produktionsverhältnis wird im Wahnsinn der Subjekte gespiegelt
Auch veränderte Sozialstrukturen und Persönlichkeitsstrukturen stellen den Pazifismus vor neue Probleme. Die Zuspitzung kapitalistischer Entfremdung und der Systemzwänge führt zu immer irrealeren, wahnsinnigeren Realitäten; Massenverelendung auf Grund von Überproduktion; Zwang zur Affirmation der eigenen Unterwerfung unter entwürdigende Arbeitsbedingungen; Verarmung auf Grund wachsender Leistung und stärkerer Arbeitsbelastung; Finanzkapitalistische Blasenökonomien; Anbetung irrealer Fetische der Warenproduktion; Zerstörung der Umwelt und Ressourcenvergeudung für eine Warenproduktion, die sich zunehmend gegen die KonsumentInnen richtet (Z.B. Gefängnisindustrie, Lebensmittelindustrie, usw.). Dies führt aber nicht zu Ausbreitung eines revolutionären Bewusstseins, sondern der Wahnsinn der Verhältnisse führt dazu, dass auch die Subjekte dem Wahnsinn verfallen (Z.B. PEGIDA, Chemtrails, Montagsmahnwachen, ..).
Menschen werden in Bewertungsschema gepresst. Und der Wert von Menschen wird bestimmt durch ihre Verwertbarkeit für das Kapital. Diese reduzierte Logik der Wert'schätzung' bestimmt längst das Denken der einzelnen Subjekte. In dieser Logik kann der eigene Wert in der Konkurrenz nur dadurch erhalten werden, dass anderen die Wertschätzung vorenthalten wird und sie als wertlos aussortiert werden oder ihnen der Marktzugang verweigert wird. Dafür werden die absurdesten rassistischen u.a. Konstrukte aktiviert.
Zum Teil flüchten die Gepeinigten auch in Gewaltphantasien und Opferträume, die unter bestimmten Bedingungen in reale Gewalt umschlagen (Z.B. europäische IS-AnhängerInnen).
Es werden alte Herrschafts- und Gewaltstrukturen (Sexismus, Autoritätshörigkeit, Anpassungsbereitschaft, Nationalismus, ..) neu kombiniert, manchmal modernisiert oder verteidigt, manchmal flächendeckend abgeräumt um durch solche ersetzt zu werden, die Identität in den veränderten Strukturen organisieren, Ursache auch für viel Kämpfe der Unterdrückten untereinander, Ursache für Spaltungen und Gewalt. Viele Konflikte dieser Art gehen durch die Einzelnen hindurch: Sie müssen sich entscheiden, sie suchen einen Weg, der ihnen Entfaltung verspricht, sie wollen manchmal etwas, was sie aber nicht können, wünschen sich etwas, was nicht erreichbar ist, der Alltag kann die Menschen paralysieren, zermürben, erschöpfen wenn sie nicht Zusammenhänge entwickeln, die Gegenmacht und eine andere Individualität als die genormte ermöglichen.
Demgegenüber üben sich die Herrschenden in Mimikry und übernehmen auch auf den Ebenen strukturaler Gewaltverhältnisse (Z.B. ARGE / Schule / ..) Sprache und Methodiken moderner Psychologie wie sie vorher oft in gewaltfreien Basisbewegungen eingeübt wurden (Gruppendynamik; Mediation; Schlichtungsverfahren). Oft wird nicht gesehen, daß solche Konzepte mißbraucht werden oder in einem Kontext der Herrschaft ihre Bedeutung ändern: Sie werden benutzt um Widerstand zu erschweren oder zu befrieden. Sie unterminieren durch diese Enteignungen ursprünglich emanzipatorisch gemeinter Gesten die Möglichkeit, die von ihnen ausgehende Gewalt rational zu begreifen. Dies führt zum Teil dazu, dass die Gewaltakteure selbst (Z.B SachbearbeiterInnen / LehrerInnen / ..) dem irrationalen Wahn ihrer Ideologie erliegen und ihre Gewaltpraxen nicht mehr als solche erkennen.
Alle sozialen Kämpfe sind Kämpfe auch um die Sprache, die Bedeutung der Wörter, auch Kämpfe um Organisationsformen und die Wahl der Mittel. Prozesse voller Widersprüche, Suchbewegungen, die oft etwas Uneindeutiges haben müssen; Offenheit und Wirkung auf verschiedene gesellschaftlichen Schichten ist für soziale Bewegungen Programm. Manchmal ist die Stärke ziviler Bewegungen der Hintergrund dafür, daß die Herrschenden sich ihrer Sprache und Methoden zu bedienen versuchen, Motive aufnehmen um damit ihre Politik zu begründen. Die Methodiken und die Sprache der gewaltfreien, sozialen und kulturellen Basisbewegungen sind in Gefahr, durch manche perverse Instrumentalisierung durch die offizielle Politik entwertet zu werden, einige erliegen dem Betrug, andere lehnen mit dem Mißbrauch gleich den Sinn und die Intention ab.
Die Alternativen scheinen auf einmal auf die Wahl zwischen Neoliberalismus, neuem Nationalismus und IS beschränkt.
- Wie lässt sich in solchen Verhältnissen eine im Kern aufklärerische Utopie wie der gewaltfreie Anarchismus aufrecht erhalten?
- Und welche Handlungsperspektiven könnten bei der Umsetzung Erfolg versprechen?
Auch das Aufgreifen gewaltfreier Sprache und Methodiken durch die Herrschenden kann als Ansatzpunkt genutzt werden, wenn es gelingt, die darin enthaltenen Grundvoraussetzungen von Gegenmacht und freiheitlicher Solidarität wirksam werden zu lassen. Pazifismus heißt immer auch alternative solidarische freie und selbstbestimmte Gesellschaftsstrukturen durchzusetzen gegen eine Gesellschaft, in der heute immer mehr Menschen als überschüssiger Rest ausgegrenzt und verworfen werden.
4) Failed Staates
Eigentlich sollte die Auflösung von Staaten doch etwas Positives sein aus anarchistischer Sicht. Das Problem ist aber, dass der Staat nicht die einzige Form äußerer Repression ist und außerdem die Subjekte, die unterschiedlichen Gewaltformen internalisiert haben. Die Auflösung staatlicher Ordnungsstrukturen ist nur dann begrüßenswert, wenn sie durch eine gesellschaftliche Basis erreicht wird, die zumindest eine Zielvorstellung einer alternativen gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft hat und die in der Lage ist, alternative Gesellschaftsstrukturen auch durchzusetzen. Insofern hat die Struktur der Failed States natürlich nichts mit Anarchie zu tun. Der in den Massenmedien inklusive TV-Serien übliche Gebrauch des Begriffs Anarchie für exzessive Gewaltstrukturen tradiert die bereits im Nationalsozialismus und im Kaiserreich übliche Diffamierung, und steht im Widerspruch zur anarchistischen politischen Theorie und Praxis. Trotzdem erfordert das Phänom der Failed States eine genaue Analyse und neue Antworten auf die Fragen des Umgangs mit Gewalt und Staatlichkeit.
Failed Staates sind keine Territorien außerhalb der herrschenden Ökonomie und Machtverhältnisse. Sie werden von vielfältigen internationalen Interessenstrukturen und ihren Gewalt- und Ordnungssystemen durchzogen. Die Staaten zerfallen in Interessensphären sich überlappender lokaler, regionaler und internationaler Machtakteure. Zu sehen ist dies bei der Ausbeutung von Rohstoffen (Z.B. Coltan) ebenso, wie im Elfenbeinhandel oder dem Landgrabbing. Die Strukturen entsprechen eher dem Warlordsystem, das aus dem China des beginnenden 20ten Jahrhunderts bekannt ist, einer Zeit in der die Kolonialstaaten, Japan und internationale Konzernkonsortien mit Hilfe regionaler Machtakteure China im Sinne der Profitmaximierung für das internationale Kapital destabilisierten und in regionale permanent umkämpfte Herrschaftsgebiete zerlegten.
Die Grenzen vieler Staaten in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten wurden von Kolonialmächten gezogen; die Folgen sind Staatsklassen, die in der Tendenz von anderen Gruppen als fremde Besatzungsmacht angesehen werden, mit der Folge gewaltsamen Zusammenhalts oder gewalttätiger Sezession. Dies ist ein weiterer Teil der Ausgangslage für die aktuellen Gewalteskalationen.
Failed Staates sind in diesem Sinn Teil transnationaler Herrschaftssysteme der globalisierten Akteure des Kapitalismus (Große Nationen / Transnationale Agenturen / Konzerne / usw. ), die mit Hilfe regionaler und lokaler ProfiteurInnen unter Anwendung extremer Gewalt ihre Interessen als Raub durchsetzen. Das diese Verhältnisse gleichzeitig auch unberechenbare Gewaltakteure hervorbringen, die den internationalen Kapitalinteressen zu wider laufen, ist dabei den inneren Widersprüchen dieser Verhältnisse geschuldet. Häufig gibt es einen funktionierenden Internationalismus von Konzernen und Staaten, nicht aber bei sozialen Bewegungen.
Da die Wiederaufrichtung einer Nationalökonomie, eines Nationalstaates aus anarchistischer Perspektive kein Ziel sein kann, gilt es Alternativen zu formulieren.
- Welche Möglichkeiten zur Durchsetzung gewaltfrei anarchistischer Gesellschaftsstrukturen ergeben sich und wie lassen sie sich unter diesen Bedingungen durchsetzen?
- Wie sieht aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht ein funktionierender Transnationalismus, die internationale Kooperation konkret aus?
- Was ist erforderlich um diese umzusetzen?
5) Entstaatlichung des Krieges
Verstärkt werden dies Entwicklungen durch die teilweise Entstaatlichung des Krieges. Mit Ausnahme der USA sind die Nationen nur noch eine Gruppe von AkteurInnen unter unterschiedlichen Gruppen. Neben die Nationen treten supranationale Strukturen (NATO / EU / UNO, ..), Privat Contractors und Konzerne, die Organisierte Kriminalität und internationale terroristische Netzwerke (IS / Al Kaida / ..). Dabei kommt es zunehmend zur Verwischung zwischen den einzelnen Akteursgruppen. Die PKK, gestern noch terroristisches Netzwerk ist plötzlich Partner der supranationalen Strukturen. Der IS bezahlt zumindest seine SpezialistInnen teils besser als Privat Contractors oder die US Armee und garantiert ihnen mit Unterstützung Kathars sogar Rente und Ruhestand. Gleichzeitig sind die Strukturen des Kalifats vergleichbar denen von Drogenkartellen und der Organisierten Kriminalität aufgebaut, die extreme Gewalt des IS entspricht in vielem der Gewalt mexikanischer Drogenkartelle und erfüllt eine ähnliche Funktion der Herrschaft durch Terror und Angst. Die Haupteinnahmequelle des IS ist ebenfalls Organisierte Kriminalität (Raub / Menschenhandel / Schutzgelderpressung im großen Maßstab / Handel mit Beutekunst und Antiken). Die Unterschiede verwischen.
Herrschende in einem Staat haben ein Interesse die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu erhalten, dies ist eine der Grundlagen für gewaltfreien Widerstand, in dem der Widerstand hier ansetzt und die Relevanz der Bevölkerung für die Funktionsfähigkeit als Ressource der Gegenmacht nutzt (klassisch z.B. Streik) . Zwar dienen auch begrenzte Destabilisierungen, die Spaltungen und Ausgrenzungen dem Zweck der Herrschaftssicherung: Teile und herrsche. Befasst Euch mit Euren Konflikten untereinander und laßt uns machen. Sie werden aber nicht so weit getrieben, dass sie die Funktionsfähigkeit des Staates ansich gefährden.
Nomadisierende Terrorgruppen, Internationale Akteure der Organisierten Kriminalität oder transnationale Konzerne, deren Gewinninteresse auf kurzfristigen Raub oder kurzfristige maximale Ausbeutung bei Inkaufnahme der Zerstörung der Gesellschaft ausgerichtet ist, sind mit diesen klassischen gewaltfreien Methoden nicht oder nur sehr begrenzt erreichbar. Sie sind nur unter Druck zu setzen indem ihnen die internationalen Rückzugsräume genommen werden.
- Wie lassen sich hierfür Voraussetzungen aus pazifistisch anarchistischer Sicht schaffen?
Zumindest ein Teil der zur Zeit in Syrien für den IS kämpfenden EuropäerInnen werden wieder zurückkehren. Als Folge sind nicht nur Terroranschläge, sondern vor allem eine extreme Brutalisierung der Organisierten Kriminalität zu erwarten, mit der Folge, des Rufes nach dem starken Staat.
- Welche Antworten haben wir als AnarchistInnen und PazifistInnen auf dieses Problem?
Alternativen - Desertation aus allen Macht- und Herrschaftsverhältnissen!
Nationalstaatliche Handlungsmacht wird in wesentlichen Fragen weitgehend inexistent. Dies trifft inzwischen selbst Staaten der Größe Frankreichs, letztendlich kann die nationale Nomenklatura nur noch ihre Herrschaft und ihre Interessen sichern, wenn sie sich internationalen Strukturen und Zwängen unterordnet. Die Delegitimation der parlamentarischen Demokratie wird zur Zeit im wesentlichen auf drei Art und Weisen beantwortet:
- Durch die Etablierung eines rückwärtsgewandten kleptokratischen Nationalismus (Z.B. Russland / Ungarn / ..);
- Durch die totale Unterordnung unter die internationalen Strukturen, die Internalisierung der Zwänge und die nach Außen getragene Ideologie dieser totalitären Unterordnung, der völligen Aufgabe staatlicher Souveränität, als wahre reife demokratische Selbstbestimmung (Litauen / ..). Gerade kleine Nationen handeln hier vergleichbar den Subjekten im Neoliberalismus, die gelernt haben, sich selbst noch die übelsten Formen der Ausbeutung als selbstbestimmte Räume der Möglichkeit und der individuellen Entfaltung zu verkaufen;
- Durch die Etablierung größerer Machtblöcke und die Reetablierung quasi nationalstaatlicher Politik auf dieser Ebene (Grüne EU / ..).
Alle drei Antworten führen nicht zu mehr Selbstbestimmung, Freiräumen und Solidarität sondern zu weniger oder zu ihrer völligen Zerstörung. Alle drei Antworten gehen vom staatlichen parlamentarischen Rahmen als Handlungsmaxime aus.
Als alternative vierte Antwort müssen wir für eine internationale gewaltfreie Basisbewegung streiten, die reale solidarische tragfähige Widerstandsstrukturen und alternative Wirtschafts-, Politik- und Sozialstrukturen schafft. Eine reale Basisalternative zu den bestehenden staatlichen Strukturen, die real überstaatlich und nicht national aufgebaut ist und funktioniert.
Das solche Strukturen möglich sind, zeigen als negative Beispiele Netzwerke der IslamistInnen oder die katholische Kirche. Es gibt keinen Grund, das wir als AnarchistInnen nicht vergleichbar wirksame Strukturen aufbauen können sollten. Wie die positive freiheitliche solidarische anarchistische gewaltfreie Variante einer solchen Struktur aussehen könnte und wie wir sie Wirklichkeit werden lassen können, ist zu diskutieren. Zu berücksichtigen ist aber, dass alle diese Strukturen von starken Affekten getragen werden und dadurch, dass sie für die Subjekte identitätsstiftend wirken. Und das hier verlässliche und belastbare Strukturen bestehen bei denen real die eigenen Strukturen auch im Konfliktfall z.B. mit nationalen Gesetzesstrukturen als die gültigen gelebt werden (Im Fall äußerer Repression vielleicht verdeckt aber doch konsequent und wirksam). Ausgangspunkt sind dabei immer dauerhafte reale soziale übergreifende Zusammenhänge, die quer zu bestehenden Strukturen aufgebaut werden (Z.B. Orden der Kirche / ..) und eine gemeinsame Kommunikationsstruktur / Sprache (Z.B. klassisch Latein).
Diese müssen nicht zentralistisch-autoritär organisiert sein; ihre Wirksamkeit kann sich gut auf regionale, dezentrale Zusammenhänge stützen, die sich selbst organisieren.
Anarchistische Strukturen müssten dabei aber darauf achten, dass sie nicht in die Falle des Libertarismus tappen und der Anarchismus als internationale Avantgardebewegung zur Etablierung des unternehmerischen Selbst vom Kapitalismus instrumentalisiert wird. Es bedarf einer klaren Positionierung gegen die individualistische Konkurrenzlogik.
Aufruf zum Ungehorsam - Schickt uns Eure Ideen, Kritiken, Träume
Dies alles sind nur erste Gedanken, wir freuen uns auf Eure Texte, Ausführungen, zusätzliche Themen usw.. Wir wollen am Schluss eine Reihe sehr konkreter ca. 20 bis 30 seitiger Artikel zu unterschiedlichen Themen zusammen herausgeben, die in ihrer Interaktion das komplexe Bild einer aktuellen pazifistisch anarchistischen Kritik leisten, pazifistisch anarchistischer Alternativen aufzeigen und konkrete Widerstandsmöglichkeiten ausarbeiten.
Als wichtige zusätzliche Perspektive wollen wir auch literarische Texte, Comics, u.a. mit aufnehmen. Bestimmte Träume, Erfahrungen und Überlegungen sind nur auf diese Weise zu vermitteln.
Ausgangspunkt ist für uns die grundsätzliche Ablehnung von Gewalt und Herrschaft. Eine Welt, in der Menschen nicht versuchen, sich selbst über die Macht, die sie über andere ausüben, zu definieren, halten wir für möglich. Eine Welt, der Freiheit, in der Solidarität, gegenseitige Hilfe und Toleranz selbstverständlich sind, ist unser Ziel.
Und diese Welt wird es nur geben, wenn die Strukturen institutioneller Gewalt (Staaten, Konzerne, medizinisches Kontrollsystem, Militärapparate, Polizei,..) ebenso außer Kraft gesetzt werden, wie der alltägliche Machtkampf von Menschen untereinander. Das wollen wir erreichen.
Uns ist klar, das dies nicht heute oder morgen passieren wird und wir wissen, dass kein Ziel zu 100% erreichbar ist. Der Sinn eines Zieles ist die Orientierung, auch und gerade für das Handeln auf dem Weg dahin. Und wir wissen auch, dass angesichts der Realität ein solcher Weg nicht widerspruchsfrei begangen werden kann, das es keine einfachen Antworten gibt.
Aber jede Herrschaftsstruktur bringt in sich, aus ihren inneren Widersprüchen und ihren Wechselwirkungen mit den Wünschen der Menschen, auch Brüche, ungeplante Entwicklungen und unvorhersehbare Alternativstrukturen hervor. Diese gilt es zu nutzen.
Eine Initiative der Graswurzelrevolution - Gruppe gewaltfreier AnarchistInnen Hannover
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